Die Idee, nach Frankreich zu reisen, entstand im letzten Frühling. Irgendwo auf der Fahrt nach Italien, auf dem Weg zur italienischen Iyengar-Konvention mit Raya Uma Datta, sagte eine von uns ganz nebenbei: „Nächstes Jahr fahren wir auch nach Frankreich.“ Damals klang es eher wie ein Scherz als wie ein Plan, aber der Wunsch hat schnell Wurzeln geschlagen.
Dieses Jahr haben wir es umgesetzt. Unsere Reise führte uns noch weiter, vorbei an Marseille bis nach Arles, wo wir am 7. November gemeinsam mit der vollen Halle Om und die Invocation to Patanjali chanteten. Tausend Kilometer in eine Richtung sind nicht wenig, daher fuhren wir bereits am Donnerstagmorgen los, der Van bis zum letzten Winkel mit Yoga-Hilfsmitteln gefüllt.
Die Fahrt verlief überraschend angenehm, besonders der Abschnitt entlang der Küste, vorbei an Nizza und Cannes. Es war unmöglich, nicht wenigstens kurz am Meer anzuhalten. Der Blick auf das weite französische Blau war die perfekte Pause vor den intensiven Tagen, die uns erwarteten.
Wir erreichten Arles bei Einbruch der Dämmerung, gerade rechtzeitig, um die Halle noch geöffnet anzutreffen. Der Raum war voller Erwartung. Wir luden rasch alles Material aus, überprüften die Anordnung und erledigten die letzten Details. Als schließlich alles bereitstand, gingen wir in unser Zimmer - erfüllt von Adrenalin, Müdigkeit und dem stillen Gefühl, dass etwas Besonderes gerade begonnen hatte.
![]()
Birjoo Mehta
Birjoo Mehta ist ein erfahrener Iyengar Yoga Lehrer aus Mumbai. Er begann in den 1970er Jahren zu praktizieren und studierte von Anfang an direkt bei B. K. S. Iyengar. Beruflich arbeitete er als Ingenieur bei Tata Communications, was seinen analytischen, klaren und methodischen Zugang zur Praxis stark geprägt hat.
Er reiste über viele Jahrzehnte weltweit, demonstrierte die zentralen Prinzipien von Guruji’s Methode und entwickelte eine bemerkenswerte Fähigkeit, technische Präzision mit der inneren, erfahrungsbasierten Dimension der Praxis zu verbinden.
![]()
1. TAG
Am ersten Tag füllte sich Arles mit der französischen Iyengar-Gemeinschaft und vielen Teilnehmern aus ganz Europa. Organisiert wurde die Konvention von der French Iyengar Yoga Association (AFYI), die 1991 gegründet wurde und heute fast dreitausend Mitglieder sowie über fünfhundert Lehrer in Frankreich vereint. Ihre Aufgabe bleibt klar – die Lehre von B. K. S. Iyengar zu bewahren, Gemeinschaft aufzubauen und qualitativ hochwertige Ausbildung zu ermöglichen.
Das Thema der diesjährigen Konvention lautete „Towards a fair practice, from effort to ease“. Die Eröffnungsrede betonte zwei wesentliche Aspekte der Praxis – den beständigen, stabilen Einsatz aus dem Yoga Sutra 1.14 und die Stille der Asana, wenn der Aufwand nachlässt, wie im Yoga Sutra 2.47 beschrieben. Diese beiden Pole stehen nicht im Widerspruch, sondern bilden ein Gleichgewicht, das nur durch genaue Beobachtung von Körper und Atem erfahrbar wird.
Das Programm war in zwei Teile gegliedert. Bis Sonntag war es für alle Praktizierenden geöffnet, während Montag und Dienstag den zertifizierten Lehrern vorbehalten waren, die mit einer vertieften, technischeren Arbeit fortfuhren. Diese Struktur schuf ein natürliches Gleichgewicht zwischen der breiten Gemeinschaft und der Weiterbildung der Lehrenden.
Der erste Tag war der Erforschung der fünf Elemente gewidmet, die in Ayurveda und Yoga die menschliche Erfahrung prägen. Wir begannen in Svastikasana und verbanden uns über den Atem mit jedem einzelnen Element.
Erde – Stabilität, Struktur, Tragkraft
Wasser – Fluss, Anpassungsfähigkeit, Weichheit
Feuer – Wärme, Kraft, Klarheit
Luft – Leichtigkeit, Weite, Ausdehnung
Äther – Raum, Stille, Feinheit
Die Arbeit basierte auf Einatmen, Ausatmen und Kumbhaka. Zuerst erspürten wir die Elemente in der Stille, danach brachten wir dieses Bewusstsein in die stehende Praxis.
In Tadasana, Vrkshasana, den Virabhadrasana-Varianten, Ardha Chandrasana, Parsvakonasana und Prasarita Padottanasana verwoben sich die Elemente in jeder Bewegung. Der Übergang von der sitzenden Ruhe zu den stehenden Asanas verlieh der Praxis neue Tiefe. Die Elemente waren nicht länger Theorie – sie wurden zu einer unmittelbaren Erfahrung, die den Blick nach innen führte.
Der Vormittag endete im Äther, in jener feinen, weiten Stille, die alles verbindet und für einen Moment den ganzen Raum – und uns – vollkommen beruhigt.
2. TAG
Der zweite Tag war der Pranayama gewidmet, das Birjoo durch persönliche Erzählungen und eine sorgfältig geführte Praxis einführte.
Er erklärte, dass er 1974 direkt bei Guruji zu praktizieren begann. In Pune galt eine klare Regel – zwei Jahre Asana-Praxis, bevor man mit Pranayama beginnt. Es war keine Begrenzung, sondern eine Vorbereitung des Körpers und des Nervensystems für die feinere Arbeit des Atems.
Wir begannen in Bauchlage-Savasana, dann gingen wir in Anantasana, wo wir den lateralen Atem beobachteten. Birjoo wiederholte mehrfach den Namen der Haltung, damit sie sich im Körper und Geist verankert.
Die sitzenden Haltungen – darunter Bharadvajasana und Marichyasana III – bildeten den inneren Teil der Praxis. Während der gesamten Sitzung arbeiteten wir mit den Bandhas, besonders mit Jalandhara Bandha und Mula Bandha, um die Aufmerksamkeit nach innen zu lenken. Sobald die Konzentration zerstreut war, kehrten wir zu Anantasana zurück – nicht immer physisch, sondern oft als innere Erinnerung, als Programm, das bereits im Körper gespeichert war.
Birjoo erklärte, dass wir auch ohne Bewegung nach Anantasana zurückkehren können – einfach durch das Erinnern an die dort erzeugte Qualität. Manche spürten sie im Nacken und Kopf als Heben, Länge und Raum. Andere mehr im Kreuzbein und unteren Rücken, als weiche natürliche Ausdehnung und innere Stille.
Als die Bandhas gelöst wurden, geschah etwas Unerwartetes – es entstand eine Stille, die über alle Technik hinausging. Es fühlte sich an, als ob die Zeit für einen Moment stehen blieb. Einige beschrieben, dass sie den Körper nicht mehr wie gewohnt fühlten – als ob die Form sich auflöste und nur Weite, Leichtigkeit oder ein innerer Raum blieb.
Dieses Zurückkehren nach Anantasana wurde zum roten Faden aller Tage – ein Übergang von Technik zur Körperantwort, von Form zur Qualität, von Haltung zur inneren Erfahrung.
Mit der Zeit wurde Anantasana mehr als eine Haltung. Es wurde ein innerer Bezugspunkt, ein Anker, zu dem wir zurückkehren konnten, wann immer wir Länge, Ruhe oder Raum brauchten, egal in welcher Asana wir uns befanden.
Birjoo erklärte auch die Verbindung zu den Nadis – Ida, Pingala und Sushumna, die die Energieflüsse regulieren und den Weg zu den inneren Stufen des Yoga öffnen.
Er verband Pranayama mit dem achtgliedrigen Pfad:
yama, niyama, asana, pranayama, pratyahara, dharana, dhyana, samadhi.
Als Atem, Elemente und Bandhas sich vereinten, entstand ein Zustand zwischen Dharana und Dhyana – ein Moment stiller Sammlung, der nicht aus Anstrengung, sondern aus innerer Ruhe erwuchs.
Nachmittagspraxis
Die Nachmittagspraxis war der Beobachtung gewidmet – dem, was Birjoo als Arbeit mit den Vayu beschrieb, den feinen Bewegungen der Prana, die die Intelligenz des Körpers wecken.
Wir beobachteten den ausgestreckten Arm – zunächst in Urdhva Hastasana, dann mit seitlich geöffneten Armen. Sobald die Muskeln aufhörten zu „tun“, begann das Bewusstsein zu führen.
Birjoo integrierte die fünf Vayu:
- Apana Vayu – absteigende Energie, Loslassen, Erdung
- Samana Vayu – zentrale Energie, Gleichgewicht, Assimilation
- Prana Vayu – aufsteigende Energie, Einatmung, Ausdehnung
- Udana Vayu – Ausdruck, Aufrichtung, Klarheit
- Vyana Vayu – zirkulierende Energie, Integration im ganzen Körper
Mit diesen Prinzipien wurde die Praxis still und klar.
In Urdhva Mukha Svanasana erhob sich der Körper durch Ausdehnung, nicht durch Kraft.
In Supta Padangusthasana I und II beobachteten wir die Haut, wie sie den Boden berührt – die Aufmerksamkeit veränderte den Muskeltonus und der Atem wurde leiser.
Die Nachmittagspraxis wurde zu einer Brücke zwischen äußerer und innerer Arbeit.
![]()
3. TAG
"Observation itself gives stillness. The whole body becomes adjusted perfectly.
You don’t have to see all parts; if the whole body becomes still, all parts of the body become still.
If you are silent, the universe becomes silent." – Birjoo Mehta
Am Sonntag fügte sich alles zu einem Ganzen. Manche Einsichten werden sich vielleicht erst in Jahren vollständig öffnen, doch das Gefühl, das während der Praxis und lange danach spürbar blieb, ist das, was wirklich trägt. Der Körper erinnert sich. Der Geist speichert es.
Birjoo erklärte eine weitere zentrale Idee:
"Any asana can be used if you manifest what you experience.
When you register a certain state, you can recall it.
And when you find a state in one asana, you can bring it into every asana."
Genau das haben wir erlebt. In Anantasana entstand ein Zustand von Sammlung, Länge und Stille, den wir anschließend in anspruchsvollere Haltungen wie Urdhva Mukha Svanasana und Ustrasana mitnehmen konnten.
Dieses Prinzip ist zugleich einfach und tief: sobald ein innerer Zustand geschaffen ist, kann er überallhin übertragen werden. Asanas sind keine getrennten Inseln, sondern Übergänge, verbunden durch die innere Erfahrung.
Als die Praxis am Sonntag endete, verließen wir den Raum mit derselben stillen Sammlung. Wegen der langen Rückfahrt machten wir uns am Nachmittag auf den Weg nach Hause, begleitet von der Ruhe, die sich in diesen Tagen angesammelt hatte. Es fühlte sich an, als hätte ein Teil der Stille des Übungsraumes uns in das Auto begleitet und wäre noch lange auf der Fahrt geblieben – eine sanfte Erinnerung daran, dass die wahre Praxis immer mit uns reist, wohin wir auch gehen.
![]()
Diese drei Tage haben deutlich gemacht, dass Yoga nie nur Dehnung oder Kraftaufbau war. Es ist eine Praxis, die einen Raum von Stille, Sammlung, Beobachtung und feinen Ebenen öffnet, die man nicht schnell erreicht. Einige Formen der Pranayama, die ich zu Hause übe, hatten mir bereits Momente der Ruhe gezeigt, doch Dharana und Dhyana offenbarten etwas viel Tieferes.
Die Konvention bestätigte, was viele von uns bereits spüren: Yoga ist ein Weg, der kein Ende hat. Er entfaltet sich langsam, manchmal unmerklich, manchmal in einem Moment völliger Stille. Jeder Tag auf der Matte ist ein neuer Anfang.
Vielleicht ist das sein größtes Geschenk: Yoga ist ein lebendiger Prozess. Es verändert uns, so wie wir es verändern. Manche Einsichten erscheinen erst, wenn wir bereit sind, sie zu hören.
Yoga begleitet uns auch außerhalb der Matte, in Geduld, in Präsenz, in der Art, wie wir der Welt begegnen.
Und es ist schön, dass es niemals wirklich endet.